Behandlung von Essstörungen

Behandlung von Essstörungen

Donnerstag, 22. Dezember 2016

Beziehung statt "Erziehung"


In der Behandlung von Essstörungen und Suchterkrankungen haben mich immer wieder sehr die verschiedenen Meinungen von Experten über den Umgang mit Betroffenen interessiert. Ich habe im Laufe der Jahre eine eigene Einstellung entwickelt bei der unterschiedliche Aspekte berücksichtigt werden. In der Behandlung der Klienten bestehen gegensätzliche Verhaltensweisen - Belohnung und Bestrafung und die liebevolle Aufmunterung. In der dialektischen Betrachtungsweise lassen sich beide Ansätze vereinbaren. Klienten benötigen sie, um das eigene Selbst zu entfalten.
Auf der einen Seite steht das Bedürfnis nach liebevollem Umgang, Fürsorge und positiver Beziehung. Auf der anderen Seite müssen die Klienten lernen, Verantwortung für ihr Leben und ihre Heilung selbst zu übernehmen. Dieses lernen die Klienten nur durch Grenzerfahrung. Die Klienten müssen erkennen, dass ihre eigene Bedürftigkeit und ihre Wünsche auch Grenzen haben müssen, um auch die Bedürfnisse anderer Menschen wahrnehmen und respektieren zu können.
Das große therapeutische Ziel berücksichtigt sowohl die eigenen Bedürfnisse, aber auch die der anderen nach der Einstellung: „Ich bin wichtig aber die anderen sind genauso wichtig wie ich.“ In der Praxis ist es sehr schwierig, diesem Ziel zu folgen, weil die Klienten über eine sehr ausgeprägte Verletzlichkeit und Bedürftigkeit verfügen. Sie haben in ihrer Biografie Vernachlässigung, Demütigung und Mangel an Zuneigung erfahren. Die Entstehung der Essstörung war ihre Überlebungsstrategie, um mit ihren Verletzungen zurechtzukommen. Aus diesem Grund halte ich in der ersten Phase der Therapie die „Ich-Stärkung“ für äußerst wichtig. Klienten wollen wertgeschätzt, verstanden und als wertvolle Menschen angesehen werden.

Einige Sozialpädagogen legen viel Wert auf Struktur und Erziehung. Sie sind der Meinung, dass Klienten nur mit einem strukturierten Tagesablauf ihre Erkrankung wieder in den Griff bekommen können. Ich habe nichts gegen eine Struktur und denke, dass sie sehr hilfreich sein kann, wenn sie vom Betroffenen freiwillig und selbstbewusst eingesetzt wird. Ich habe oft die Erfahrung gemacht, dass sich Menschen mit einer Essstörung im Laufe ihres Lebens extrem an die Anforderung des Umfeldes anpassen mussten. Sie hatten früher wenig Raum, um sich zu behaupten. Das war oft die Folge eines Erziehungsstils im Elternhaus. In anderen Fällen mussten sie in der Familie Aufgaben übernehmen, für die sie nicht zuständig waren. In der Behandlung von Essstörung kann Erziehung auch ein ablehnendes, widerstehendes Verhalten hervorrufen. Betroffene sind in der Regel hochintelligent und selbstbestimmt und benötigen eine Beziehung auf gleicher Augenhöhe. Die Vermittlung einer Struktur ist für sie vorteilhaft und kann durch einen respektvollen Umgang übermittelt werden. Im Grunde müssen sie aus eigenem Leid heraus erfahren, dass sich eine Struktur lohnt, um ihre Essstörung zu überwinden. Beispiele dafür sind: regelmäßiges Essen fortsetzen, Stresstoleranz regelmäßig einüben, um Essanfälle vorzubeugen, Belohnungen in den Alltag einbauen usw. Ich bin der Meinung, dass Betroffene ihre Ressourcen nutzen können, wenn sie sich selbstbewusst für die Heilung entscheiden. Der Weg bis dahin ist nicht einfach und voller Hürde. Aber dieser Weg ist jeder Zeit möglich, weil er von dem eigenen Selbstbewusstsein und Selbstentscheidung abhängt.

Sonntag, 4. Dezember 2016