In der
modernen Gesellschaft nehmen Werte wie menschliche Wertschätzung und
bedingungslose Akzeptanz immer weniger Raum ein. Stattdessen werden Leistung
und Anpassungsbereitschaft gefordert. Ein Kind das unglücklicherweise in einer
Familie geboren wird, die bewusst oder unbewusst keinen sicheren Hafen mit
einer angemessenen emotionalen Versorgung, Geborgenheit und Unterstützung
bietet, riskiert später aus diesem wahnsinnigen Karussell geschleudert zu
werden, wo es sein Selbstsein aufopfern muss, um dem Soll-Sein willkommen zu
sagen.
In den
meisten Fällen entwickelt sich eine psychische Erkrankung als „Notlösung“, um
auf diese Diskrepanz zu reagieren: „Das wahre Selbst: Ich stehe zu mir und zu
meinen inneren Bedürfnissen“ versus „Das
falsche Selbst: Ich muss anders und besser
sein, mich anpassen, um die Erwartungen bzw. Anforderungen meiner Umwelt,
Eltern, Freunde, meines Arbeitgebers und Kolleginnen nicht zu enttäuschen.“
In der
Psychotherapie haben wir es mit sehr vielen Dichotomien zu tun. Ein Beispiel
dafür ist auch das Thema: „Autonomie versus Abhängigkeit“. Bei den Dichotomien
wird eine dialektische Lösung angestrebt, in der sowohl die eine als auch die
andere Lösung berücksichtigt wird, um eine neue Sichtweise für die
Problemlösung zu erlangen. D.h. bei „Autonomie versus Abhängigkeit“ wird
versucht das Bedürfnis nach Unabhängigkeit und freier Entfaltung mit dem
Bedürfnis nach Bindung und sich auf Beziehungen einzulassen miteinander zu
vereinbaren. Was passiert aber dann, wenn sich ein Mensch unbewusst in Richtung
einer Polarisierung bewegt, im Lauf der Jahre ein falsches Selbst aufbaut und
folglich an einer Selbstwertproblematik leidet?
Wie
ich bereits vorher erwähnt habe, könnte er eine „Notbremse“ ziehen/entwickeln
und eine Essstörung bzw. andere psychische Erkrankung entwickeln. Essstörungen
bzw. Abhängigkeitserkrankungen gehen meistens mit einem sehr niedrigen Selbstbewusstsein
und verzerrten Selbstbild einher.
In der
Einzeltherapie geht es zuerst um das Erkennen der Grundbedürfnisse, die in den
primären Beziehungen von den Bezugspersonen nicht befriedigt worden sind.
Gleichzeitig geht es um Selbstregulation, die es ermöglicht, einen Zugang zu
den schmerzhaften Gefühlen zu erlangen; und um deren Regulierung, indem der Betroffene
lernt einen anderen Umgang zu sich selbst, seinen Emotionen und seinen
zwischenmenschlichen Beziehungen zu entwickeln.
Wie kann
dies gelingen?
- Durch Reflexion
über die eigenen biografischen Hintergründe. Fragestellungen wie: „Welche
Erfahrungen habe ich mit Wertschätzung und Anerkennung gemacht? Wurde ich nur
wegen meiner Leistung oder angepassten Verhalten gelobt? Wurde ich für meine
Fehler kritisiert, abgelehnt, misshandelt, bestraft oder geschlagen? Habe ich
das Gefühl gehabt, dass ich nur einen Wert habe, wenn ich eine Leistung
erbringe oder etwas für die anderen tue?“ Diese Einschätzung wird von vielen
Menschen mit Essstörungen geteilt. Der erste Schritt wäre durch Erkennen dieser
Ursache eine Verhaltensänderung zu vollziehen: „Wie kann ich meinen Mitmenschen
– auch meinen Kindern - das Gegenteil meiner subjektiven Empfindungen
weitergeben und meinen geliebten Mitmenschen ein positiv besetztes Beziehungszeichen
geben?“ Beispielsweise: „Ich liebe dich trotzdem, auch wenn du meine Erwartungen enttäuschst“. „Ich kann wohl dein
Verhalten von deinem liebenswerten Selbst unterscheiden, auch wenn du nicht
tust, was ich mir wünsche.“ Auf diese Art und Weise kann mindestens die
generationelle Kette mit den elterlichen Grundannahmen in Frage gestellt
werden, um die Beziehungen zu unseren Kindern und Partner zu verbessern.
Emotionale Wertschätzung und Anerkennung sind keine Deutschstärke. In den
südländischen Kulturen wird der liebevolle menschliche Umgang noch eine andere
Ausprägung haben
-
Durch Selbsttoleranz und Akzeptanz der eigenen
menschlichen Fehler und durch Meinungsrelativierung durch Dritte. In der
modernen Gesellschaft tendieren die Menschen zum Perfektionismus. Jeder möchte
sich als lebensfähig und erfolgreich erleben. Wenn dies nicht geschieht, fühlt
sich unser Selbstwertgefühl bedroht. Unser Selbstwertgefühl leidet besonders unter
Vergleichen. Wir brauchen z.B. den Vergleich mit anderen Menschen, als Maßstab
für unsere Lebensziele, um ein Gefühl zu bekommen, ob wir mit unserem Leben
zufrieden sind. Allerdings kann der Vergleich oft zur Selbstabwertung führen,
wenn wir glauben, dass die anderen glücklicher sind, als wir usw. Der Vergleich
mit anderen Menschen sollte uns nur eine
Orientierung geben. Aber er sagt auf keinen Fall etwas über unsere Fähigkeiten
und über unser Selbstwertgefühl. Menschen mit einer Essstörung tendieren dazu,
sich ständig mit anderen Menschen zu vergleichen, um sich herabzusetzen. Die
Fremdmeinung sagt auch nichts über unsere Eigenschaften. Andere Menschen haben
das Recht uns nicht zu mögen. Das macht uns aber nicht weniger liebenswert.
Meinungen sind immer subjektiv und stellen keine Tatsache dar. Wenn es uns
gelingt, unser Selbstwertgefühl nicht von den Meinungen anderer abhängig zu
machen, können wir eine reale Einschätzung zu unseren Fähigkeiten bekommen und
unser Selbstwertgefühl aufrechterhalten bzw.
stärken.
-
Durch die regelmäßige Pflege von positiven
Erlebnissen (Hobbies, Urlaub, Freizeitaktivitäten) und unterstützenden
Kontakten, die unser Leben bereichern (Treffen mit Freunden,
Familienangehörigen und Personen, die uns nicht
kritisieren und emotional belasten). Menschen die uns nehmen, so wie wir
sind und uns kein Gefühl von Leistung oder Gegenleistung vermitteln.