Behandlung von Essstörungen

Behandlung von Essstörungen

Freitag, 6. Mai 2011

REICHTUM UND VERLUST

Ich war in den vergangenen Jahren mit verschiedenen Themen beschäftigt. Sie waren mit meiner Lebensgeschichte ganz fest verbunden. Aber ich merkte immer wieder, dass bestimmte Themen für die Essstörungen ganz typisch sind. Denn viele andere Betroffene haben und hatten mehr oder weniger dieselben Themen. Die Einzelnen lassen sich in meinem Buch zusammenfassen und gründlich beschreiben. Am Anfang lebt man mit der Krankheit so lange wie man will. Der nächste Schritt besteht darin, sich mit ihr auseinanderzusetzten und gegen sich zu kämpfen. Schafft man es? Denkt man, dass alles vorbei ist, dass man sie sehr schnell vergessen kann. Das stimmt nicht!!! Die Frage „Warum ist es mir passiert oder Warum ich?!!“ war die Beliebteste. Keiner konnte sie beantworten. Aber sie war und ist für die Betroffenen die Einzige, die übrig bleibt, wenn man verzweifelt ist.
Heute kann ich gewiss feststellen, dass die Frage völlig unnötig und sinnlos war. Ich habe wie früher keine Antwort dafür. Aber ich habe tausend Ressourcen zur Verfügung gehabt, um die Warum-fragen von meinem ganzen Leben zu löschen und sie in Wie- bzw. Was- fragen zu verwandeln. Nach dem folgenden Beispiel: „ Wie konnte ich es schaffen?“ „Was konnte ich tun?“ Das habe ich mich gefragt und getan. Ich merkte, ich war jeden Tag ein Stück weiter. Was ich gelernt habe, ist nie verloren gegangen. So konnte ich von dieser Krankheit immer mehr profitieren. Wenn ich an meine Jugendzeit zurückdenke, bemerke ich, dass die Essstörungen mir viel weggenommen haben… einfach zu viel…so viel, dass die jetzige Zeit nicht ausreichen würde, um nachzuholen, was ich verpasst und verloren habe. Aber sie haben mir auch die Möglichkeit gegeben, mir ein ganzes Stück näher zu kommen, mich und andere Menschen besser zu verstehen, mir selbst und den anderen zu helfen, wenn sie in schwierige Zustände geraten. Vor allem haben sie mir die Chance gegeben Schmerz und Leid anderer Menschen zu erfassen. „Verlust und Reichtum“ nenne ich den Weg aus den Essstörungen. Diesen Weg kennt jeder Mensch, der im Leben mit großen Verlusterlebnissen rechnen musste. Wenn er schon tief unten war, kann er im Leben nicht mehr die Erfahrung machen, sich so ausgeliefert und am Ende zu fühlen. Es kann alles Mögliche passieren. Aber es wird nie so schlimm sein wie früher. So kann man die Berichte von den anderen ehemaligen Betroffenen immer wieder anhören, wenn sie sagen: „ Es geht mir im Moment nicht besonders gut, aber es geht mir im Vergleich zu früheren Zeiten trotzdem gut“. Ich halte diese Erkenntnis für sehr wichtig. Ab dieser Phase trägt die therapeutische Unterstützung bei den Betroffenen immer wieder in der Gegenwart festzuhalten. Gegenwart ist die Garantie für den Kontakt zur Realität. Das Leben im Hier und Jetzt, mit allem, mit Höhen und Tiefen ermöglicht die reale Auseinandersetzung mit den Problemen und die Schritte zur Heilung. Die therapeutische Arbeit beginnt in diesem Fall in der Gegenwart und bietet lösungsorientierte Möglichkeiten für die Zukunft an. Betroffene lernen, mit den Problemen anders umzugehen als früher. Sie beginnen das Neue zu schätzen, nicht mehr zu jammern. Es wird ihnen bewusst: „Es gibt nichts zu verlieren, sondern man kann daran wachsen und gewinnen.“ Selbsteinschätzung, Selbstbild und Einstellung zum Leben ändern sich beträchtlich bei den Menschen, die in solchen Krisen waren. Eine Krise kann als Chance betrachtet werden, etwas Neues anfangen zu können. Ich muss meinem ganzen Erlebten dankbar sein. Heute wäre ich wahrscheinlich eine sehr arme Philologin gewesen, anstatt mit den Menschen und ihren Problemen arbeiten zu wollen.

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